Die Begriffe werden von Therapeuten, Fachpersonal, Betroffenen und Interessierten inflationär und vermischt verwendet.

Warum ist eine passende Bezeichnung wichtig?

Damit man sein Gegenüber gut verstehen und nachvollziehen kann, ist es wichtig die Unterschiede zu kennen.
Dies kann helfen in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient, zwischen Betroffenen untereinander, in zwischenmenschlichen Beziehungen und auch um Betroffene in ihrem Erleben ernst zu nehmen.

Ergo befassen wir uns mit den Begriffen und deren Unterschiede "inneres Kind", "Anteile", "Ego-States".


Grundlegend spreche ich hier von drei unterschiedlichen Kategorien: voll- oder teilabgespaltenen Anteile im Sinne einer dissoziativen Identitätsstruktur / Ich-Zustände, bzw. Ego-States /  modellhafte Betrachtungsweise der Kindheit




Voll- oder teilabgespaltenen Anteile im Sinne einer dissoziativen Identitätsstruktur (pDIS / DIS nach ICD11)
• Anteile sind dissoziierte, sehr kreative Mechanismen um unaushaltbare / existenzgefährdende Situationen auf Dauer zu überleben; In der Kindheit hat aus [Gründen] eine volle Ich- / Selbstintegration der Persönlichkeitsentwicklung nicht stattgefunden
• Diese Anteile Können eigenständig agieren, die "Kontrolle" über das Bewusstsein übernehmen (wertungsfrei)
• Sie können zum Beispiel den Alltag manipulieren und durch das "Alltags-Ich" hindurch agieren
• Teilweise ausgeprägte inner-visuelle Ausprägung, eventuell mit Namen / Alter / Geschlecht / Zuständigkeitsbereich, dies kommt auf den Grad im Dissoziations-Spektrum an
• Je nach Dissoziations-Grad und Hintergrund ("natürlich als Reaktion entstanden" / "induziert und beabsichtigte Spaltung") auch in eigenem Sub-System verortbar
• Die Barrieren zu Wissen / Erfahrung sind teilweise extrem hoch, was Anteil A weiß, weiß Grupp B/C/D nicht, die Informationen sind vorhanden, aber nicht von jedem Anteil abrufbar
• Sofern sie mit bewusster, induzierter Abspaltung aus dem Orga-Bereich (Organisierte Gewalt, Kult und Co.) kann nochmal eine andere Klasse der Abspaltung bestehen (Stichwort Polyfragmentierung)

Beispiel pDIS: Markus hat eine diagnostizierte pDIS, seine innere Identitätsstruktur ist durch frühe Traumatisierung fragmentiert. Er nimmt Anteile seines Ich-Erlebens wahr, welche teilabgespalten sind. Bei Markus gibt es unter anderem einen Anteil, der unter anderem eine frühe Traumatisierung im Familienumfeld immer wieder überleben musste. Dieser Anteil in ihm "wirkt durch ihn hindurch", kann das Geschehen im Außen manipulieren und Markus nimmt diesen Anteil als Stimme wahr, die einen großen Einfluss auf seinen Alltag hat. Er erlebt sie als irgendwie "fremd", nicht zu ihm gehörend. Er streitet auch immer wieder mit diesem Anteil, da die Weltordnung für Markus und den Anteil sehr unterschiedlich sind. Ohne diesen Anteil hätte er sein toxisches Umfeld aus der Vergangenheit nicht überlebt. Dieser Anteil "stört" den "normalen" Alltagsablauf. Markus erlebt sich selbst manchmal in einem Derealisations-Zustand oder Depersonalisations-Zustand, wenn der Anteil "zu nah nach vorne" rückt bzw. näher ins Bewusstsein vordringt.

Beispiel DIS mit Orga-Hintergrund: Laura hat eine diagnostizierte DIS. Der Hintergrund der dissoziativen Identitätsstruktur wurde durch das Spektrum der organisierten Gewalt bewusst gesteuert. Laura hat im Alltag immer wieder Amnesien, mal Stunden, mal nur ein paar Minuten oder auch ganze Tage und Wochen die Laura fehlen. In dieser amnestischen Zeit ist der vollabgespaltene Anteil "Franz" aktiv. Es besteht kein Co-Bewusstsein zu einander. Franz hat sein eigenes "Leben", agiert völlig unterschiedlich zu Laura und hält bspw. Kontakt zu alten Täterkreisen. Franz hat seine eigene Art der Kommunikation, ein eigenes Alltags-Erleben. Beide gehören zum System von Ausweisname "Laura", jedoch kann schlecht differenziert werden, wer nun die "Ursprungs-Identität" ist, da sie ihr Leben von Beginn an stark dissoziiert und fragmentiert überleben musste.

Oft verwendete Synonyme: Innenpersönlichkeiten, Innies, Innens, Teil-Identitäten, Alter Ego, Alters



Ego-States im Sinne einer "Ego-State-Disorder"
• Von Ego-States wird meist im Zusammenhang mit der Ego-State-Therapie gesprochen
• In der Ego-State-Therapie kann auch die "Innere Kind"-Arbeit ein Element sein
• Ego-States sind Dimensionen der eigenen Persönlichkeit, die aus Interaktionen mit der Umwelt (Arbeitsumfeld, Vater sein, Freundeumfeld etc.) entstanden sind
(• Bei nicht traumatisierten Menschen, würde man hier auch von Rollen sprechen. Siehe Artikel über Ego-State-Disorder)
• Ego-States sind der Versuch des Hirns Bedürfnisse zu regulieren, die mit der Umwelt zusammenhängen und teilweise konträr zueinanderstehen
• Bei traumatisierten Menschen können diese Rollen kollidieren und die Zusammenarbeit verweigern, hier würde man von einer Ego-State-Disorder sprechen (nach ICD10 wäre dies wohl in F44.9 zugeordnet "Dissoziative Störung (Konversionsstörung), nicht näher bezeichnet", wo man dies im ICD11 verortet ist mir noch nicht ganz klar, ggf bei 6B6Z "Dissociative disorders, unspecified)
• Dies sind Ich-Zustände, mit eigener Weltanschauung, eigenen Bedürfnissen und auch Wahrheiten
• Im Kontext der Ego-States wird trotzdem / auch von Anteilen gesprochen (das führt zur Verwirrung)
• Bei Betroffenen einer ESD besteht trotzdem das Wissen "das bin alles ich" oder "ja das kenne ich alles von MIR", sie sind nicht abgespalten oder dissoziiert
• Das Alltags-Ego-State hat teilweise sehr wenig Bezug zu den emotionalen Ich-Zuständen
• Ich-Zustände sind auf nicht natürliche Art und Weise losgelöst
• Ein besserer Begriff statt Anteile wäre ich die Spezifizierung von Ich-Zustände / Ich-Anteile eventuell.

Beispiel: Karl hat in seiner Kindheit sehr wenig Zuspruch erfahren, er wurde psychischer Gewalt ausgesetzt von seinem Vater und hatte nur sehr wenige Bezugspersonen, denen er vertrauen konnte. Heute ist Karl gut organisiert, kann sich im Alltag zurechtfinden, aber hat immer wieder widersprüchliche Impulse. Morgens geht er in die Tagesklinik und kann sich dem Programm dort gut anpassen und ist zuversichtlich, dass diese im auf Dauer hilft. Abends, wenn er alleine ist triggert ihn teilweise das "Alleine sein" - Gefühl. Karl ist "plötzlich" sehr emotional, depressiv verstimmt und er sieht kein Land mehr, ist aggressiv, wütend, pessimistisch. Sein Weltbild ändert sich, er sieht überall Bedrohungen von außen und versucht sich zu schützen. Wenn Karl im "vom Ich-Gefühl entfremdeten"-Ego-State "wechselt", ist dies die "neue" und "aktuelle" Wahrnehmung.

Oft verwendete Synonyme: Alter Ego, Alters (ja hier wird es wieder undifferenziert, da beide Begriffe auch für Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstruktur verwenden), Ich-Teile, Ich-Anteile



Das sogenannte "Innere Kind" im Sinne der Innere-Kind-Arbeit
• Die Bezeichnung "Inneres Kind" hat nichts mit einem dissoziierten teilweise eigenständigem Anteil im Sinne der (p)DIS zu tun!
• Vereinfachte Beschreibung von inneren Prozessen aus der kindlichen Vergangenheit
• Je nach therapeutischem Verfahren unterschiedlich betitelt und unterschiedlich beschrieben (Beispiel: Schematherapie, "Reparenting", PITT, Ego-State-Therapie, Systemische Therapie)
• Allgemein gesagt: Begriff und vereinfachtes Erklärungsmodell für eine Meta-Ebene um bspw. seelische Verletzungen aus der Vergangenheit zu erkennen und zu strukturieren
• Zielt auf die emotionale Zuwendung der in der Vergangenheit ignorierten Verletzungen ab, wie zum Beispiel Anerkennung erfahren, Kränkbarkeit begreifen etc.
• Könnte man gezielter übersetzen mit "Das Ich, welches in der Kindheit bestanden hat und in der Gegenwart mit Emotionen, Verhaltensweisen, Erfahrungen nachwirkt"

Beispiel: Sina hat emotionale anhaltende Verletzungen in der Kindheit und im Jugendalter durch die Mutter erfahren. Dadurch konnte sich das Selbstwertgefühl nicht gesund bilden und wirkt in ihrem jetzigen Alltag nach. Wenn sie von ihrer Abteilungsleiterin sachlich auf etwas hingewiesen wird, reagiert sie hochemotional, wie vom Blitz getroffen kann sie nicht mehr anders agieren als schnellstmöglich das Weite zu suchen. Die erlernte Vermeidungs-Strategie "stört" den Alltag immens. Dadurch hat sie eine heftige depressive Verstimmung erlebt und geht nun zu einem Therapeuten, der sich mit der Inneren-Kind-Arbeit befasst. Gemeinsam mit ihrem Therapeuten besprechen sie Zusammenhänge aus Alltags-Situationen und erlernten Verhaltensweisen aus der Kindheit. Das "Innere-Kind"-Modell hilft ihr dabei diese Prozesse zu erkennen, zu verstehen und letztlich damit zu arbeiten.


Innere-Kind-Therapie / Arbeit
• Kann man als Metapher verstehen
• Wird meist in Verbindung mit einem Gesprächstherapeuten gestartet
• Verbindung zu den "alten" kindlichen Gefühlen
• Ziel ist es unter anderem positive Kräfte freisetzen (kindliche Freude, Interessen, Lebenslust, Neugierde) zu lernen und die Kindheits-Ich-Verbindung in der Gegenwart zu begreifen
• Wertschätzende Zuwendung und eine Re-Bewertung negativer Emotionen und Gedanken sind ein Element
• Integration kindlicher Bedürfnisse über Meta-Ebene "Inneres-Kind"
• IRRT Ansatz bei Traumafolgestörung
• Werkzeuge aus Trauma, Gestalt und hypnoanalytischen Therapie
• Bspw. über Imaginationsübungen, die (Familien-)Stuhltechnik, Kontakt mit inneren Ich-Zuständen erzielen (Richtung Rollen oder Ego-States)
• Das Hirn macht meist keinen Unterschied zwischen realen Erlebnissen und intensiv vorgestellten Erlebnissen, daher kann die Arbeit bei vielen Betroffenen einiges bewirken
• "Erwachsenes Ich" also "Das Ich, welches in der Gegenwart besteht" soll eine fürsorgliche Elternrolle übernehmen und Aufgaben des "Inneren-Kindes" übernehmen

Dazu passende Artikel: Ego-State-Disorder, Begriffe, Interview, Partitielle dissoziative Identitätsstörung | ICD 11, Polyfragmentierte DIS, DIS

Liebe Grüße,
Linehme

P.S. "Hey, das stimmt nicht ganz!" oder "Das sehe ich ganz anders"? Nachricht an -> Webmasterin Linehme

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